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200 Jahre Gemeinde Kißlegg - Einführung in ein vielschichtiges Jubiläum

Die Gemeinde Kißlegg feiert im Jahr 2020 ihr 200jähriges Jubiläum. Damit verbunden sind weitere runde „Geburtstage“, etwa der Anschluss Kißleggs an das Eisenbahnnetz vor 150 Jahren und der Baubeginn zum Lückenschluss der Bundesautobahn A96 zwischen Dürren und Leutkirch vor 15 Jahren, die Gründung des Naturkindergartens vor 15 Jahren sowie mehrere Vereins- und Firmenjubiläen.

200 Jahre Gemeinde Kißlegg? Kißlegg ist doch wesentlich älter! Am Ende des 8. Jahrhunderts von dem Priester Ratpot als Zelle mit Wohnung und Kirche gegründet, wird der Ort bereits im Jahr 824 in zwei Urkunden des Klosters St. Gallen unter dem Namen „Ratpoticella“ erstmals erwähnt und bildet fortan als Standort eines Maierhofs ein Zentrum der Besitzungen des Klosters im damaligen „Nibelgau“.

Eine adlige Familie übernimmt in späteren Jahrhunderten die Aufsicht über den Maierhof und überträgt nach und nach den Namen ihrer Burg und ihrer Familie auf den Ort: „Kisilegge“. 1394 werden die Nachfolger der Kißlegger, die Herren von Schellenberg, von König Wenzel mit dem Marktrecht und der hohen und niederen Gerichtsbarkeit privilegiert. Sie können nun daran gehen, ein eigenes, wenn auch sehr kleines, reichsunmittelbares Territorium zu formen, das später Teil der Reichsritterschaft, Kanton Hegau-Allgäu-Bodensee, wird.1 Kißlegg wird zum „Flecken“, einer rechtlich und wirtschaftlich zwischen dem Dorf und der Stadt stehenden Ansiedlung, in der sich Handel und Handwerk für den Ort und sein Umland entwickeln können.

1381 teilen die Schellenberger ihren Besitz in zwei Hälften, behalten aber in den wesentlichen Bereichen der Verwaltung und der Gerichtsbarkeit eine gemeinsame Herrschaft bei. Manches entsteht jetzt aber zweifach: Zwei Schlösser, zwei Amtshäuser, zwei Spitäler, zwei Leprosen- und Armenhäuser, je zwei Tafernwirtschaften und sogar zwei Tanzhäuser2. Die Teilung ist für die Bevölkerung, die Untertanen, spürbar: Nachbarn im gleichen Weiler haben unterschiedliche Grund- und Leibherren, liefern Natural- und Geldabgaben an unterschiedliche Rentämter oder Kirchenpflegen, bekommen die Erlaubnis zur Heirat von unterschiedlichen herrschaftlichen Oberämtern oder erhalten in der Not Hilfe von zweierlei Stiftungen und Einrichtungen.

Im 15. und 16. Jahrhundert, auch im Rahmen der allgemein auftretenden bäuerlichen Proteste, entsteht dann auch in Kißlegg die „Landschaft“, der korporative Verband der Untertanen zur Regelung gemeinsamer Aufgaben untereinander und gegenüber der Herrschaft. In Kißlegg eben doppelt: für jede Herrschaftshälfte eine eigene Landschaft mit eigenem Vorsteher, eigenen Hauptleuten und nicht zuletzt einer je eigenen Kasse; alles streng reglementiert und überwacht durch die jeweiligen herrschaftlichen Beamten.

Und auch eine kleinere Organisationseinheit besteht im Jahr 1820, vor 200 Jahren, bereits seit Menschengedenken: die „Gemeinde“. Die Gemeinde des Fleckens Kißlegg, aber auch die Gemeinden der Dörfer und Weiler der Herrschaft in der Form der bäuerlichen Flurgemeinde. Sie regelt die Ordnung der Flur in der Dreifelderwirtschaft, die gemeinsame Viehweide und die damit verbundenen Hirtendienste, den Schutz der Feldflur gegen Wildtiere und beim Viehtrieb sowie die Instandhaltung der Brunnen und der Wege im Flecken und zwischen den Feldern.3

200 Jahre Gemeinde Kißlegg? Es wird deutlich – dieses Jubiläum bedarf der Erläuterung.

Das Jahr 1820 war ein Jahr, in dem die Bevölkerung auf eine Zeit großer wirtschaftlicher Not nach Krieg und Naturkatastrophe zurückblickte, auf eine Zeit der Entbehrungen und der Epidemien und Krankheiten. Nicht zuletzt auch auf eine Zeit gewaltiger politischer Umbrüche, die mit den Revolutionskriegen 1792 begonnen hatte, 1806 das Ende des alten Kaiserreichs und den Anschluss Kißleggs an das neugebildete Königreich Württemberg brachte und nach vielerlei teilweise widersprüchlichen Organisationsversuchen des neuen Staates schließlich 1819 mit dem Inkrafttreten der Verfassung des fortschrittlichen Königs Wilhelm ihren Abschluss fand. Gemeinsam mit einem einschlägigen Edikt des Königs4 bestimmte die Verfassung die einheitliche Bildung der Oberämter und Gemeinden im Königreich, legte fest, wer in den jeweiligen Einheiten welche Aufgaben zu erfüllen hatte und welche Kompetenzen erhalten sollte. Nicht zuletzt wurde bestimmt, wer darüber zu entscheiden hatte, welche Personen als Amtsträger die Aufgaben in Gemeinden und Oberämtern übernehmen sollten. Große Amtsbezirke wurden aufgeteilt; kleine zusammengelegt, einzelne Weiler neu zugeteilt, manches Mal – wie im Flecken Kißlegg – die alten Flurgemeinden in die neuen Gemeinden integriert.

Was war das Neue? Hatten nicht die Kißlegger schon seit alter Zeit ihre jährliche Gemeindeversammlung am Vorabend des St. Martinstags abgehalten, wie die Gemeindeordnung aus dem Jahr 1720 (auch ein Jubiläum!) berichtet, und darin über den Haushalt und die Vergabe der dörflichen Ämter beraten und entschieden?5 Das neue war die zunächst die Aufteilung: Die beiden aus den Zeiten der Herrschaft Kißlegg bis dahin erhalten gebliebenen Landschaften, kurzzeitig von der Klammer einer „Oberschultheißerei“ zusammengefasst, wurden aufgelöst, das Gebiet in sechs voneinander unabhängige Gemeinden aufgeteilt6 (Emmelhofen, Immenried, Kißlegg, Samisweiler, Sommersried und Wiggenreute; Waltershofen war nach kurzem bayerischen Intermezzo bereits 1810 zu einer eigenen württembergischen Schultheißerei geworden). Ebenso aufgeteilt wurde die Finanzierung der Aufgaben der bisherigen Landschaften: Unterhalt der Straßen und Brücken, Beiträge für die Schulen, für die Feuerlöschanstalt, für die Tätigkeit des Wasenmeisters und für die Hebamme und vieles mehr. Und in Kißlegg selbst bezog man die Aufgaben der uralten (Flur-) Gemeinde des Fleckens in die „neue“ Gemeinde mit ein.

Dann beinhaltete die Reform etwas Entscheidendes: die steuerzahlenden, männlichen, über 25 Jahre alten Bürger der Gemeinden sollten in Wahlen ihr Oberhaupt, den Schultheißen, der vorgesetzten Behörde vorschlagen und zwei verwaltende bzw. kontrollierende Gremien, den Gemeinderat und den Bürgerausschuss, bestimmen können.7 Die Stimme des Wählers war gewichtet nach der Höhe seiner Steuerzahlung; Einwohner ohne Bürgerrecht (die sog. „Beisitzer“) und die Frauen blieben ausgeschlossen. Schultheißen wurden auf Lebenszeit gewählt (erst ab 1907 auf 10 Jahre begrenzt), Gemeinderäte ab einer ersten Wiederwahl nach 2 Jahren ebenfalls auf Lebenszeit (bis 1849).8

Nach einer Phase, die durch eine von oben verordnete bürokratische Ministerialverfassung geprägt war,9 hatten die Gemeinden in Württemberg mit der neuen Gemeindeverfassung nun ein Recht auf die eigenständige Verwaltung vieler Bereiche erhalten. Sie übten Verwaltungstätigkeiten aus, waren aber auch mit der freiwilligen, teilweise sogar der streitigen Gerichtsbarkeit befasst.10

Eine gewisse Einschränkung der Eigenständigkeit und Selbstverwaltung stellte die vom Wiener Kongress 1815 verfügte Rückgabe der Patrimonialgerichtsbarkeit (der erstinstanzlichen Zuständigkeit in Zivil-, Straf- und Forstsachen und des Polizeiwesens in den Dörfern und Märkten11) an den standesherrlichen Adel dar. Kißlegg und die abgetrennten Landgemeinden bildeten zusammen mit Prassberg und Leupolz die Waldburg-Wolfegg‘sche (teils mit Waldburg-Wurzach gemeinschaftliche) „Vogtei Kißlegg“ und waren statt direkt dem Oberamt zunächst dem „Königlich Württembergischen Fürstlich Waldburg-Wolfegg‘schen Bezirksamt Wolfegg“ zugeordnet. Auf die Einrichtung eigener Gerichte übte das Haus Waldburg Verzicht12, hingegen lag die Bestimmung des Schultheißen aus dem Wahlvorschlag der Gemeindebürger in der Entscheidungsgewalt des Fürsten von Wolfegg – bis zur Revolution von 1848.

Der Gemeinderat, der in Kißlegg wie auch in den umliegenden Landgemeinden aus sieben Mitgliedern bestand, und seine Ausschüsse („Deputationen“) regelten z. B. die Anstellung und Besoldung der Gemeindebediensteten, legten die Gemeindeumlage, die Schulgelder und die Schullöhne fest, bestimmten über den Kauf und Verkauf von Gemeindevermögen (z. B. Grundstücken), über Straßenbaumaßnahmen, über den Bau und Unterhalt der gemeindeeigenen Gebäude und vieles mehr. Bedienstete der Gemeinde waren u. a. der Gemeindepfleger, der Hirtenmeister, die Hirten, der Fleckenschütz, die Nachtwächter, die Waschhausaufseherin und der Bote.13

Gemeindepflege-Rechnung 1926/27


Titel der
Gemeindepflegerechnung der Gemeinde Kißlegg für das Rechnungsjahr 1826/27, geführt von Gemeindepfleger Sebastian Welte aus Kißlegg.

Die Aufgaben der Gemeinde in der freiwilligen und streitigen Gerichtsbarkeit verwaltete der Gemeinderat im Plenum als „gesessenes Gericht“ sowie in seinen Ausschüssen, z. B. dem Waisengericht und dem Untergangsgericht. Das „Waisengericht“ führte die Geschäfte der Pflegschaften und Vormundschaften von Gemeindeangehörigen und war an der Erstellung der Inventuren und Teilungen bei Todesfällen und Eheschließungen in Gemeinschaft mit dem Amtsnotar beteiligt. Das „Untergangsgericht“ nahm hauptsächlich bei Grenz- und Überfahrtsstreitigkeiten vor Ort die Streitsache in Augenschein und führte ein Urteil herbei.14 Der Schultheiß selbst ahndete kleinere Gesetzesverstöße auf dem Gemeindegebiet mit Geld- und Gefängnisstrafen und nahm in seiner Funktion als Ratsschreiber den Abschluss und die Protokollierung von Rechtsgeschäften unter den Gemeindebürgern, insbesondere Kauf- und Tauschverträgen, vor.15 Die Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuches des mittlerweile gegründeten Kaiserreichs im Jahr 1900 entlastete die Gemeinden von einem großen Teil der Aufgaben in der freiwilligen Gerichtsbarkeit, so dass diese sich nun stärker Bereichen wie z. B. der Infrastruktur, der wirtschaftlichen und baulichen Entwicklung und des Schulwesens widmen konnten. Heute spielt selbst die Ratsschreiberei nur noch eine untergeordnete Rolle.

Dem Gemeinderat stellte die Verwaltungsreform ein beratendes und kontrollierendes Gremium gegenüber, den Bürgerausschuss, den die Gemeindebürger alle zwei Jahre neu wählten (ab 1891 alle vier Jahre). In Kißlegg bestand der Bürgerausschuss aus sieben Mitgliedern. Dem Gremium stand eines seiner Mitglieder als „Obmann“ vor; es musste bei allen wichtigen Gemeindeangelegenheiten angehört werden, z. B. bei der Festlegung der Gemeindeumlage, dem Kauf und Verkauf von Gemeindevermögen und der Verleihung des Ehrenbürgerrechts.16 Der Bürgerausschuss konnte Beschlüsse des Gemeinderats in ihrer Wirkung hemmen und – auch gegenüber den vorgesetzten Behörden – in Frage stellen oder bekräftigen. Ausdrücklich sollte der Bürgerausschuss von der „ordentlichen Verwaltung entfernt“ bleiben, die dem Gemeinderat und dem Schultheißen oblag.17

Gemeinsame Aufgaben und Einrichtungen der neu entstandenen Gemeinden sowie der bereits früher abgetrennten Gemeinde Waltershofen führten auch nach Auflösung der Landschaftskassen dazu, dass die Ortsvorsteher sich über die Bestreitung und Aufteilung der anfallenden Kosten beraten und einigen mussten. Gemeinsame Aufgaben und Einrichtungen waren wie schon zuvor das Feuerlöschwesen mit dem gemeinsamen Feuerlöschgerätehaus („Spritzenhaus“) in Kißlegg, der Schulverband im Bereich der Pfarrei Kißlegg (ohne Immenried und Waltershofen), die Abdeckerei („Kleemeisterei“) mit der sogenannten „Fallhütte“ im Löhle sowie die gemeinsame Hebamme. Die Kosten hierfür wurden von 1822 bis 1840 auf die einzelnen Gemeindekassen umgelegt.

Spritzenhaus Kißlegg











Spritzenhaus der Landschaft Kißlegg in der heutigen Schützengasse in Kißlegg. Das Gebäude wurde im Jahr 1811 erbaut und dient heute als Lagerraum und öffentliche Toilette.

Als im Jahre 1840 der Kauf des ehemaligen Klosters und dessen Umbau zum Schul- und Rathaus für die am Schulverband beteiligten Gemeinden anstand, wurden Schwierigkeiten bei der Abrechnung mit den Gemeindepflegen deutlich; das bisherige System erwies sich als unzureichend. Nach Abschluss der Arbeiten am Schulhaus wurde daher 1846 beschlossen, rückwirkend für 1840/45 und in Zukunft eine gemeinsame "Landschaftsverbands-Rechnung" über die gemeinsamen Ausgaben und die hierzu erforderlichen Beiträge der Gemeinden zu stellen. Außerdem wurden die Besprechungen der Ortsvorsteher dieses "Landschaftsverbandes" von 1840 an protokolliert. Eine feste Organisation fehlte aber zunächst.

Der Entwurf eines Statuts von 1861 sah erstmals ein besonderes Vertretungs- und Verwaltungs-Gremium für den Landschaftsverband vor. Das Statut kam jedoch nie zur Gültigkeit; die Kreisregierung erlaubte mit Erlass vom 9.1.1863 lediglich ein Verwaltungsorgan für den Schul- und Kirchenverband und erklärte die bestehende Verbindung desselben mit dem Landschaftsverband für unstatthaft, weil Landschafts- und Schulverband geographisch nicht deckungsgleich waren. Aufgrund dieses Bescheids erfolgte 1865 die Trennung des Pfarr- und Schulverbands von der Landschaft. Letztere erhielt nun einen Ausschuss aus Vertretern der Gemeinden (Landschaftsausschuss) und einen Landschaftsvorsteher (1863 - 1901 der Sommersrieder Schultheiß Franz Xaver Dentler, ab 1901 der Schultheiß von Kißlegg).

Waltershofen war nur teilweise am Landschaftsverband beteiligt. Es trat am 1844 auch der gemeinsamen Feuerlöschanstalt bei, aus der es aber bereits 1861 wieder ausschied. Zuletzt hatte die Gemeinde nur an der Abdeckerei mit der Fallhütte Anteil. 1866 verabschiedete sich auch Immenried, wo bereits 1861 eine Feuerwehr entstanden war, aus dem Feuerlöschverband. 1888 schließlich wurde dieser dann ganz aufgelöst.

Die 1865 aus dem Landschaftsverband herausgelöste Pfarr- und Schulgemeinde wurde durch den "Pfarr- und Schulgemeinderat" verwaltet. Neben der Schule erstreckte sich ihr Aufgabenbereich unter anderem auch auf die Unterhaltung des kirchlichen Friedhofs. Die kirchlichen Aufgaben wurden um 1895 der St. Gallus- und Ulrichs-Kirchenpflege zugeteilt und die Pfarr- und Schulgemeinde in "Schulgemeinde Kißlegg" umbenannt.18

Das Eigentum am Schul- und Rathaus wurde zunächst ganz der Pfarr- und Schulgemeinde zugesprochen, später aber mit der Landschaft geteilt. Allen Landschaftsgemeinden (außer Immenried und Waltershofen) diente lange Zeit der Ostflügel des Gebäudes als Rathaus, in dem die Sitzungen der Gemeinderäte des Fleckens und der Landgemeinden abgehalten und die Akten der Landschaft, der Schulgemeinde und der Stiftungen aufbewahrt wurden.19 Aber auch Räumlichkeiten in Wirtshäusern wurden für Ratssitzungen genutzt, z. B. in Rötsee für den Gemeinderat Emmelhofen. Die Schultheißen selbst amtierten hauptsächlich von ihren Wohnungen aus. So hing das Schild „Schultheißerei“ im Flecken Kißlegg nicht etwa am gemeinsamen Rathaus, sondern am Wohnhaus des Schultheißen Speth, wie uns ein altes Foto zeigt.

Gmeinderat 1928





Amtseinsetzung von Schultheiß Josef Speth am 28. Januar 1928 vor dem früheren Rathaus (dem jetzigen kath. Gemeindehaus), mit Schultheiß, Alt- Schultheiß, Geistlichkeit und Gemeinderäten von Kißlegg sowie den Schultheißen der drei anderen  Landschaftsgemeinden. 

Erste Reihe (sitzend, v. l. n. r.): Alois Elbs, Franz Speth, Adrian Speth, Albert Kottmann, Pfarrer Emil Wahr, Pfr. i. R. Franz Josef Ziesel, Franz Raichle, Anton Haehl (Schultheiß von Sommersried), Alois Welte (Gemeindepfleger von Kißlegg), Hans Rinninger, Karl Kehle. Zweite Reihe (stehend, v. l. n. r.): Anton Weiland, David Kuhn, Anton Schäfer, Franz Zimmermann, Albert Frey, Landrat Alfred Doll, Bürgermeister Josef Speth, Franz Büchele, Karl Schupp, Benedikt Horn, Josef Kesenheimer (Schultheiß von Wiggenreute), Georg Sonntag (Schultheiß von Emmelhofen), Ludwig Kramer.

Obwohl die Landschaftsgemeinden zusammen mit Immenried, Waltershofen und sogar unter Einschluss des benachbarten Leupolz mit einer Distrikts-Tierarztstelle 1908 nochmals eine gemeinsame Einrichtung schufen, waren die einzelnen Gemeinden zu Anfang des 20. Jahrhunderts, entgegen ihrer Einstellung bei der seinerzeitigen Aufteilung der Landschaft 1819/20, sehr um ihre Eigenständigkeit bemüht. 1910, als in Kißlegg ein neues Schulgebäude für die Schulgemeinde errichtet werden sollte, sprachen sich Teile der Bürgerschaft auf dem Land sogar dafür aus, innerhalb ihrer jeweiligen Gemeindegrenzen eigene Schulen zu errichten. Als Schulstandorte im Gespräch waren dabei die Orte Bärenweiler für die Gemeinde Sommersried und Rötsee für die Gemeinde Emmelhofen.20 Umso heftiger wehrten sich Emmelhofen, Sommersried und Wiggenreute 1924 gegen eine in Anregung gebrachte Eingemeindung nach Kißlegg. Die Gemeinde Emmelhofen erstellte nun sogar ein eigenes Rathaus (1927) und beantragte schließlich 1928 erfolgreich die Auflösung der Landschaft, um der drohenden Eingemeindung zu entgehen.21

Zuletzt zogen sich auch der Flecken Kißlegg und die Gemeinde Wiggenreute aus dem gemeinsamen Rathaus im ehemaligen Kloster zurück. Kißlegg ließ 1931 ein eigenes Rathaus im Ensemble mit dem Gebäude der Landschaftsbank und dem Arzthaus von Dr. Reich errichten und Wiggenreute mietete die bisherigen Räume der Landschaftsbank im Gebäude des Kaufhauses „Kuen zur Sonne“ am Kirchplatz als Ratslokal an. Das alte Kloster, nun nur noch von der Gemeinde Sommersried genutzt, hieß fortan im Volksmund das „Sommersrieder Rathaus“.'

Rathaus Emmelhofen Rathaus und Landschaftsbank

Rathaus Kißlegg, erbaut 1931, mit Landschaftsbank (rechts) und Haus Dr. Reich (links)
Rathaus Emmelhofen,
erbaut 1927

Obwohl sich die 1933 gleichgeschalteten, das heißt mehrheitlich mit NSDAP-Mitgliedern besetzten Gemeinderäte der Landgemeinden wiederum dagegen aussprachen, erzwang die NSDAP-Kreisleitung 1934 schließlich die Eingemeindung von Emmelhofen, Sommersried und Wiggenreute nach Kißlegg.22

Das politische Leben nach dem 2. Weltkrieg begann in Kißlegg bereits 1946. Zur Besorgung der Gemeindeangelegenheiten in Kißlegg wurde von der franz. Besatzungsregierung ein Gemeindeverwaltungsausschuss geschaffen, der bis zur Wahl des ersten Nachkriegs-Gemeinderats im Jahr 1948 amtierte. Die Hauptaufgabe war zunächst die Unterbringung der vielen Flüchtlinge aus den Ostgebieten. Die Ansiedlung von größeren Gewerbebetrieben und der Bau von stattlichen Mehrfamilienhäusern im Jahr 1950 markierte dann den Beginn eines beschleunigten Strukturwandels in Kißlegg, verbunden mit Wohnungsbau und Bevölkerungsanstieg.

Die Verwaltungsreform von 1972 führte nach vielen Diskussionen und Verhandlungen mit den Nachbargemeinden Waltershofen, Immenried, Leupolz und Wolfegg schließlich zur Eingemeindung

von Waltershofen und Immenried. Sie wurden als Ortschaften mit je eigenem Ortsvorsteher und Ortschaftsrat in die Gemeinde Kißlegg eingegliedert. 1974 entschied sich auch der nördliche Teil der Gemeinde Leupolz um den Ort Bietenweiler für den Anschluss an die Gemeinde Kißlegg.

Nach und nach hatten in diesem Prozess nun also alle Dörfer und Weiler, die einst in irgend einer Form zur Herrschaft Kißlegg und ihren beiden Landschaften gezählt wurden, wieder in einen gemeinsamen körperschaftlichen Verband zurückgefunden.


ANMERKUNGEN:

1Rauh, Dr. Rudolf: Systematische Übersicht über die Bestände des Fürstl. von Waldburg-Zeil'schen Gesamtarchivs in Schloss Zeil von 1806 (1850) : Archiv Kisslegg und Archiv Ratzenried. In: Württembergische Archivinventare; Heft 24. Stuttgart: Kohlhammer 1953, S. 18

2Pill-Rademacher, Dr. Irene: Kißlegg - Ländliche Residenz im württembergischen Allgäu. In: Deeg, Andrea/Reuß, Angela/Gräfin Waldburg, Michaela (Hrsg): Kißlegg im Allgäu. Kißlegg: Bücherstube Kißlegg und Gäste- und Kulturamt Kißlegg 1997, S. 7

3Gemeindearchiv Kißlegg (GA Kißlegg) Az 1100

4Königlich Württembergisches Staats- und Regierungs-Blatt vom Jahr 1819, Stuttgart: Hasselbrink 1819, S. 17 ff.

5GA Kißlegg (wie Anm. 3), Az 1100

6Landesarchiv Baden-Württemberg, Abt. Staatsarchiv Sigmaringen (StAS), Bestand Wü 65/42 T 1-2 Nr. 17 (Reskript der Kgl. Organisatons-Vollziehungskommission vom 19.07.1819)

7Eitel, Peter: Geschichte Oberschwabens im 19. und 20. Jahrhundert / Bd. 1. Der Weg ins Königreich Württemberg (1800 – 1870), Osterfildern: Thorbecke 2010, S. 70 f.

8Schönthaler, Matthias: Schriftgut des 19. und frühen 20. Jahrhunderts in württembergischen Gemeindearchiven. In: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte, Band 66 2007, S. 293-324, S. 295 f.

9Grube, Walter: Vogteien, Ämter, Landkreise in Baden-Württemberg / Bd. 1. Geschichtliche Grundlagen. Hrsg. vom Landkreistag Baden-Württemberg. Stuttgart: Kohlhammer 1975, S. 72, Schönthaler, S. 295, spricht sogar von einer „kurzen absolutistischen Phase“

10Schönthaler (wie Anm. 8), S. 295 f.

11Grube (wie Anm. 9), S. 75, Eitel (wie Anm. 7), S. 59

12Eitel (wie Anm. 7), S. 59

13GA Kißlegg, Gemeindepflege-Rechnung Kißlegg 1819/20

14Schönthaler (wie Anm. 8), S. 295 f. und 305

15Ebd. S. 308 und 317

16Ebd. S. 296

17Staats- und Regierungsblatt 1819 (wie Anm. 4), S. 17 ff.

18Kath. Pfarrarchiv Kißlegg, Bestand Pfarrei St. Gallus und Ulrich, H 10.2 a

19Zur Entwicklung der Landschaft 1840 - 1901: GA Kißlegg, Bestand Landschaft Kißlegg, Protokoll 1840 ff; Wanderbeilagen zur Rechnung

20Argenbote, Amtsblatt für den Bezirk Wangen – Wangener Tag- und Anzeigeblatt, Wangen 1910, vom Nr. 22/1910 vom 28.01.1910, GA Kißlegg (wie Anm. 3), Schulgemeinderatsprotokoll Bd. 3, S. 140

21Müller, Johannes: Kißlegg unterm Hakenkreuz. Hrsg. vom Heimatverein „D´Schellenberger“ Kißlegg e.V. Kißlegg 2016, S. 41.

22Ebd., S. 40


 
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